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„Es werden nur Tiere angenommen, die tierschutzgerecht transportiert werden und ordnungsgemäß gekennzeichnet sind“, steht auf dem Schild über der Betonrampe. Am Ende der Rampe liegt, steif und bleich, ein totes Schwein. „Ja, manche sterben schon während des Transportes, Kreislaufkollaps.“ Was für ein Glück, dass ich die alte Jacke mitgenommen habe. Obwohl erst Anfang Oktober, ist es schneiend kalt. Aber ich friere nicht nur deswegen. Ich vergrabe die Hände in den Taschen, zwinge mich zu einem freundlichen Gesicht und dazu, dem Direktor des Schlachthofes zuzuhören, der mir erklärt, dass man längst keine Lebenduntersuchung mehr vornimmt, nur eine Lebendbeschau. 700 Schweine pro Tag, wie sollte das auch gehen. „Es sind eh keine kranken Tiere dabei. Die würden wir sofort zurückschicken, und das kostet den Anlieferer eine empfindliche Strafe. Das macht der einmal und dann nicht wieder.“ Ich nicke pflichtschuldig – durch, nur durchhalten, du musst diese sechs Wochen hinter dich bringen. Was passiert mit den kranken Schweinen? „Da gibt es einen ganz speziellen Schlachthof.“ Ich erfahre einiges über die Transportverordnungen und wie viel genauer man es heutzutage mit dem Tierschutz nimmt. Das Wort, an diesem Ort gesprochen, klingt makaber. Inzwischen hat sich der vielstimmig grunzende und quiekende Doppeldecktransporter unter uns bis an die Rampe heranrangiert. Einzelheiten sind in der morgendlichen Dunkelheit kaum auszumachen; die Szenerie hat etwas Unwirkliches und gemahnt an jene gespenstischen Wochenschauen aus dem Krieg, an graue Waggonreihen voller ängstlicher bleicher Gesichter, an Laderampen, über die geduckte Menschenmengen von gewehrtragenden Männern getrieben werden; plötzlich bin ich mittendrin. So etwas träumt man in bösen Träumen, aus denen man schweißgebadet aufschreckt: Inmitten wabernden Nebels, in Eiseskälte und schmutzigem Zwielicht dieses unnennbare böse Bauwerk, dieser flache, anonyme Klotz aus Beton und Stahl und weißen Kacheln, ganz hinten am frosterstarrten Waldesrand; hier geschieht das Unaussprechliche, wovon niemand wissen will. Die Schreie sind das erste, was ich höre an jenem Morgen, als ich eintreffe, um ein Pflichtpraktikum anzutreten, dessen Verweigerung für mich fünf verlorene Studienjahre und das Scheitern aller Zukunftspläne bedeutet hätte. Aber alles in mir – jede Faser, jeder Gedanke – ist eine Verweigerung, ist Abscheu und Entsetzen und das Bewußtsein nicht steigerbarer Ohnmacht: Zusehen müssen, nichts tun können. Und sie werden dich zwingen mitzumachen, dich ebenfalls mit Blut zu besudeln. Schon aus der Ferne, als ich aus dem Bus steige, treffen die Schreie der Schweine mich wie ein Messerstich. Sechs Wochen lang werden sie mir in den Ohren gellen, Stunde für Stunde, ohne Unterlass. Durchhalten. Für dich ist es irgendwann zu Ende. Für die Tiere nie. Ein kahler Hof, einige Kühltransporter, Schweinehälften am Haken in einer grell erleuchteten Türe. Alles peinlich sauber. Das ist die Vorderfront. Ich suche nach dem Eingang, er ist seitlich gelegen. Zwei Viehtransporter fahren an mir vorbei, gelbe Scheinwerfer im Morgendunst. Mir weist ein fahles Licht den Weg, erleuchtete Fenster. Ein paar Stufen, dann bin ich drinnen, und jetzt ist alles nur noch weißgekachelt. Keine Menschenseele zu sehen. Ein weißer Gang – da, der Umkleideraum für Damen. Fast sieben Uhr, ich ziehe mich um; weiß, weiß, weiß. Der geliehene Helm schaukelt grotesk auf den glatten Haaren. Die Stiefel sind zu groß. Ich schlurfe wieder in den Gang, stoße beinahe mit dem zuständigen Veterinär zusammen. Artige Begrüßung. „Ich bin die neue Praktikantin.“ Bevor es losgeht, die Formalitäten: „Ziehen Sie sich mal was Warmes an, gehen Sie zum Direktor und geben Sie Ihr Gesundheitszeugnis ab. Dr. XY sagt Ihnen dann, wo Sie anfangen.“ Der Direktor ist ein jovialer älterer Herr, der mir erst einmal von den guten alten Zeiten erzählt, als der Schlachthof noch nicht privatisiert war. Dann hört er leider damit auf und beschließt, mich persönlich herumzuführen. Und so komme ich also auf die Rampe. Rechterhand kahle Betongevierte, von eisigen Stahlstangen umgeben. Einige sind bereits mit Schweinen gefüllt. „Wir beginnen hier um fünf Uhr morgens.“ Geschubse, hier und da Kabbeleien, ein paar neugierige Rüssel schieben sich durch die Gitter, pfiffige Augen, andere unstet und verwirrt. Eine große Sau geht beharrlich auf eine andere los; der Direktor angelt nach einem Stock und schlägt sie mehrfach auf den Kopf. „Die beißen sich sonst ganz böse.“ Unten hat der Transporter die Holzklappe heruntergelassen, die vordersten Schweine schrecken vor dem wackeligen und abschüssigen Übergang zurück, doch von hinten wird gedrängelt, da ein Treiber dazwischengeklettert ist und kräftige Hiebe mit einem Gummischlauch austeilt. Ich werde mich später nicht mehr wundem über die vielen roten Striemen auf den Schweinehälften. „Der Elektrostab ist für Schweine inzwischen verboten“, doziert der Direktor. Einige Tiere wagen strauchelnd und unsicher die ersten Schritte, dann wogt der Rest hinterher; eins rutscht mit dem Bein zwischen Klappe und Rampe, kommt wieder hoch, hinkt weiter. Sie finden sich zwischen Stahlverstrebungen wieder, die sie unentrinnbar in einen noch leeren Pferch führen. Wenn es um eine Ecke geht, verkeilen sich die vorderen Schweine, alle stecken fest und der Treiber flucht wütend und drischt auf die hintersten ein, die panisch versuchen, auf ihre Leidgenossen zu springen. Der Direktor schüttelt den Kopf. „Hirnlos. Einfach hirnlos. Wie oft habe ich schon gesagt, dass es doch nichts bringt, die hintersten zu prügeln!“ Während ich noch wie erstarrt dieses Schauspiel verfolge (das ist bestimmt alles nicht wahr – du träumst), wendet er sich ab und begrüßt den Fahrer eines weiteren Transportes, der neben den anderen gefahren ist und sich jetzt zum Ausladen bereit macht. Warum es hier viel schneller, aber auch mit noch mehr Geschrei vonstatten geht, sehe ich erst, als hinter den emporstolpernden Schweinen ein zweiter Mann aus dem Laderaum auftaucht. Denn was nicht schnell genug ist, wird von ihm mit Elektroschocks bedacht. Ich starre den Mann an, dann den Direktor, und dieser schüttelt ein weiteres Mal den Kopf: „Also, Sie wissen doch, das ist bei Schweinen jetzt verboten!“ Der Mann blickt ungläubig drein, steckt dann das Gerät in die Tasche. Von hinten stupst mich etwas in die Kniekehle, ich fahre herum und blicke in wache blaue Augen. Viele Tierfreunde kenne ich, die enthusiastisch schwärmen von ach so seelenvollen Katzenaugen, dem treuen Hundeblick. Wer spricht von der Intelligenz und Neugier in den Augen eines Schweins? Ich werde diese Augen bald noch anders kennenlernen: stumm schreiend vor Angst, von Schmerzen stumpf, dann blicklos, gebrochen, aus den Höhlen gerissen, über den blutverschmierten Boden kullernd. Messerscharf streift mich ein Gedanke, den ich in den folgenden Wochen monoton noch viele hundert Male im Geiste wiederholen werde: Fleischessen ist ein Verbrechen – ein Verbrechen… Danach ein kurzer Rundgang durch den Schlachthof, im Pausenraum beginnend. Eine offene Fensterfront zur Schlachthalle, in unendlicher Folge schweben am Fließband fahle, blutige Schweinehälften vorbei. Dessen ungeachtet sitzen zwei Angestellte beim Frühstück. Wurstbrot. Die weißen Kittel der beiden sind blutverschmiert, unter einem Gummistiefel hängt ein Fetzen Fleisch. Hier ist der unmenschliche Lärm noch gedämpft, der mir wenig später ohrenbetäubend entgegenschlägt, als ich in die Schlachthalle geführt werde. Ich fahre zurück, weil eine Schweinehälfte scharf um die Ecke saust und gegen die nächste klatscht. Sie hat mich gestreift, warm und teigig. Das ist nicht wahr – das ist absurd – unmöglich. Alles zugleich stürzt auf mich ein. Schneidende Schreie. Das Kreischen von Maschinen. Blechgeklapper. Der durchdringende Gestank nach verbrannten Haaren und versengter Haut. Der Dunst von Blut und heißem Wasser. Gelächter, unbekümmerte Rufe. Blitzende Messer, durch Sehnen gebohrte Fleischerhaken, daran hängende halbe Tiere ohne Augen und mit zuckenden Muskeln. Fleischbrocken und Organe, die platschend in eine blutgefüllte Rinne fallen, so dass der eklige Sud an mir hochspritzt. Fettige Fleischfasern am Boden, auf denen man ausrutscht. Menschen in Weiß, von deren Kitteln das Blut rinnt, unter den Helmen oder Käppis. Gesichter, wie man sie überall trifft: in der U-Bahn, im Kino, im Supermarkt. Unwillkürlich erwartet man Ungeheuer, aber es ist der nette Opa von nebenan, der flapsige junge Mann von der Straße, der gepflegte Herr aus der Bank. Ich werde freundlich begrüßt. Der Direktor zeigt mir rasch noch die heute leere Rinderschlachthalle – „Rinder sind dienstags dran!“ -, übergibt mich dann einer Dame und enteilt. Er hat zu tun. „Die Tötungshalle können Sie sich ja selbst mal in aller Ruhe ansehen.“ Drei Wochen werden vergehen, ehe ich mich dazu überwinde. Der erste Tag ist für mich noch Galgenfrist. Ich sitze in einem kleinen Zimmerchen neben dem Pausenraum und schnipple Stunde um Stunde kleine Fleischstückchen aus einem Eimer von Proben, den regelmäßig eine blutige Hand aus der Schlachthalle nachfüllt. Jedes Stückchen – ein Tier. Das Ganze wird dann portionsweise zerhäckselt, mit Salzsäure angesetzt und gekocht – für die Trichinenuntersuchung. Die Dame zeigt mir alles. Man findet nie Trichinen, aber es ist Vorschrift. Am nächsten Tag werde ich dann selbst zu einem Teil der gigantischen Zerstückelungsmaschinerie. Eine rasche Einweisung – „Hier, den Rest des Rachenringes entfernen und die Mandibularlymphknoten anschneiden!“ -, und ich schneide drauflos. Es muss schnell gehen, das Band läuft weiter, immer weiter. Über mir werden andere Teile des Kadavers entfernt. Arbeitet der Kollege zu schwungvoll, oder staut sich in der Rinne vor mir zuviel blutiger Sud, spritzt mir der Brei bis ins Gesicht. Ich versuche, zur anderen Seite auszuweichen, doch da werden mit einer riesigen, wassersprühenden Säge die Schweine zerteilt; unmöglich kann man hier stehen, ohne nass bis auf die Knochen zu werden. Mit zusammengebissenen Zähnen säbele ich weiter – noch muss ich mich zu sehr eilen, um über all das Grauen nachdenken zu können, und außerdem höllisch aufpassen, mir nicht in die Finger zu schneiden. Gleich am nächsten Tag teile ich mir mit einer Kommilitonin, die das Ganze schon hinter sich hat, einen Kettenhandschuh. Und höre auf, die Schweine zu zählen, die triefend an mir vorübergleiten. Auch Gummihandschuhe verwende ich nicht länger. Zwar ist es grässlich, mit bloßen Händen in den warmen Leichen herumzuwühlen, doch da man sich zwangsläufig bis an die Schultern beschmiert, läuft das klebrige Gemisch der Körperflüssigkeiten ohnehin in die Handschuhe hinein, so dass man sie sich auch sparen kann. Wozu drehen sie noch Horrorfilme, wenn es das hier gibt? Bald ist das Messer stumpf. „Geben Sie her – ich schleife Ihnen das mal!“ Der nette Opa, in Wahrheit ein altgedienter Fleischbeschauer, zwinkert mir zu. Nachdem er das geschärfte Messer zurückgebracht hat, schwatzt er ein bisschen herum, erzählt mir einen Witz und geht wieder an die Arbeit. Er nimmt mich auch künftig ein bisschen unter seine Fittiche und zeigt mir manchen kleinen Trick, der die Fließbandarbeit erleichtert. „Gell? Ihnen gefällt das hier alles nicht. Sehe ich doch. Aber da muss man nun mal durch.“ Ich kann ihn nicht unsympathisch finden, er bemüht zu helfen; sicher machen sie sich lustig über die vielen Praktikanten, die hier kommen und gehen, die erst schockiert, dann mit zusammengebissenen Zähnen ihre Arbeit ableisten. Aber sie tun es gutmütig, Schikanen gibt es nicht. Es gibt mir zu denken, dass ich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die hier arbeitenden Leute gar nicht als Unmenschen empfinden kann. Sie sind nur abgestumpft, wie auch ich selbst mit der Zeit. Das ist Selbstschutz, man kann es sonst nicht ertragen. Nein, die wahren Unmenschen sind all jene, die diesen Massenmord tagtäglich in Auftrag geben, die durch ihre Gier nach Fleisch Tiere zu einem erbärmlichen Dasein und einem noch erbärmlicheren Ende – und andere Menschen zu einer entwürdigenden und verrohenden Arbeit – zwingen. Langsam werde ich zu einem kleinen Rädchen in dieser ungeheuren Automatie des Todes. Irgendwann im Verlauf der nicht endenwollenden Stunden werden die eintönigen Handgriffe mechanisch, und mühsam, fast erstickt durch die ohrenbetäubende Kakophonie und Allgegenwärtigkeit unbeschreiblichen Grauens, gräbt sich der Verstand aus den Tiefen betäubter Sinne empor und fängt wieder an zu funktionieren. Differenziert, ordnet, versucht zu begreifen. Aber das ist unmöglich. Als ich zum ersten Mal bewusst erfasse – am zweiten oder dritten Tag -, dass ausgeblutete, abgeflämmte und zersägte Schweine noch zucken und mit dem Schwänzchen wackeln, bin ich nicht in der Lage, mich zu bewegen. „Sie – sie zucken noch…“, sage ich, obwohl ich ja weiß, dass es nur die Nerven sind, zu einem vorübergehenden Veterinär. Der grinst: „Verflixt, da hat einer `nen Fehler gemacht – das ist noch nicht richtig tot!“ Gespenstischer Puls durchzittert die Tierhälften. Ein Horrorkabinett. Mich friert bis ins Mark. Wieder daheim lege ich mich aufs Bett und starre an die Decke. Stunde für Stunde. Jeden Tag. Meine nächste Umgebung reagiert gereizt. „Guck nicht so unfreundlich. Lächle mal. Du wolltest doch unbedingt Tierarzt werden“. Tierarzt. Nicht Tierschlachter. Ich halte es nicht aus. Diese Kommentare. Diese Gleichgültigkeit. Diese Selbstverständlichkeit des Mordens. Ich möchte, ich muss sprechen, es mir von der Seele reden. Ich ersticke daran. Von dem Schwein möchte ich erzählen, das nicht mehr laufen konnte, mit gegrätschten Hinterbeinen dasaß. Das sie solange traten und schlugen, bis sie es in die Tötungsbox hineingeprügelt hatten. Das ich mir hinterher ansah, als es zerteilt an mir vorüberpendelte: beidseitiger Muskelabriss an den Innenschenkeln. Schlachtnummer 530 an jenem Tag, nie vergesse ich diese Zahl. Ich möchte von den Rinderschlachttagen erzählen, von den sanften braunen Augen, die so voller Panik sind. Von den Fluchtversuchen, von all den Schlägen und Fluchen, bis das unselige Tier endlich im eisernen Pferch zum Bolzenschuss bereit steht, mit Panoramablick auf die Halle, wo die Artgenossen gehäutet und zerstückelt werden. Dann der tödliche Schuss, im nächsten Moment schon die Kette am Hinterfuß, die das ausschlagende, sich windende Tier in die Höhe zieht, während unten bereits der Kopf abgesäbelt wird. Und immer noch, kopflos, Ströme von Blut ausspeiend, bäumt der Leib sich auf, treten die Beine um sich… Erzählen von dem gräßlich-schmatzenden Geräusch, wenn eine Winde die Haut vom Körper reißt, von der automatisierten Rollbewegung der Finger, mit der die Abdecker die Augäpfel – die verdrehten, rotgeaderten, hervorquellenden – aus den Augenhöhlen klauben und in ein Loch im Boden werfen, in dem der ‚Abfall‘ verschwindet. Von der verschmierten Aluminiumrutsche, auf der alle Innereien landen, die aus dem riesigen geköpften Kadaver gerissen werden, und die dann, bis auf Leber, Herz, Lungen und Zunge – zum Verzehr geeignet – in einer Art Müllschlucker verschwinden. Erzählen möchte ich, dass immer wieder inmitten dieses schleimigen, blutigen Berges ein trächtiger Uterus zu finden ist, dass ich kleine, schon ganz fertig aussehende Kälbchen in allen Größen gesehen habe, zart und nackt und mit geschlossenen Augen in ihren schützenden Fruchtblasen, die sie nicht zu schützen vermochten. Das kleinste so winzig wie ein neugeborenes Kätzchen und doch eine richtige Miniatur-Kuh, das größte weich behaart, braunweiß und mit langen, seidigen Wimpern, nur wenige Wochen vor der Geburt. „Ist es nicht ein Wunder, was die Natur so erschafft?“, meint der Veterinär, der an diesem Tag Dienst hat und schiebt Uterus samt Fetus in den gurgelnden Müllschlucker. Und ich weiß nun ganz sicher, dass es keinen Gott geben kann, denn kein Blitz fährt vom Himmel hernieder, diesen Frevel zu rächen, der seinen Fortgang nimmt, wieder und wieder. Auch für die erbärmlich magere Kuh, die, als ich morgens um sieben komme, krampfhaft zuckend im eisigen, zugigen Gang liegt, kurz vor der Tötungsbox, gibt es keinen Gott und niemanden, der sich ihrer erbarmt in Form eines schnellen Schusses. Erst müssen die übrigen Schlachttiere abgefertigt werden. Als ich mittags gehe, liegt sie immer noch und zuckt. Niemand, trotz mehrfacher Aufforderung, hat sie erlöst. Ich habe das Halfter, das unbarmherzig scharf in ihr Fleisch schnitt, gelockert und ihre Stirn gestreichelt. Sie blickt mich an mit ihren riesig-großen Augen, und ich erlebe nun selbst, dass Kühe weinen können. Die Schuld, ein Verbrechen tatenlos mitanzusehen, wiegt so schwer wie die, es zu begehen. Ich fühle mich so unendlich schuldig. Meine Hände, Kittel, Schürze und Stiefel sind besudelt vom Blute ihrer Artgenossen. Stundenlang habe ich unter dem Band gestanden, Herzen und Lungen und Lebern aufgeschnitten. „Bei den Rindern saut man sich immer total ein“, bin ich bereits gewarnt worden. Das ist es, wovon ich berichten möchte, um es nicht allein tragen zu müssen. Aber im Grunde will es keiner hören. Nicht, dass ich während dieser Zeit nicht oft genug befragt werde. „Wie ist es denn so im Schlachthof? Also, ich könnte das ja nicht!“ Ich grabe mir mit den Fingernägeln scharfe Halbmonde in die Handflächen, um nicht in diese mitleidigen Gesichter zu schlagen, oder um nicht den Telefonhörer aus dem Fenster zu werfen – schreien möchte ich. Aber längst hat all das, was ich tagtäglich mitansehe, jeden Schrei in der Kehle erstickt. Keiner hat gefragt, ob ich es kann. Reaktionen auf noch so karge Antworten verraten Unbehagen ob des Themas. „Ja, das ist ganz schrecklich, und wir essen auch nur noch selten Fleisch.“ Oft werde ich angespornt: „Beiß die Zähne zusammen, du musst da durch, und bald hast du es ja hinter dir!“ Für mich eine der schlimmsten, herzlosesten und ignorantesten Äußerungen, denn das Massaker geht weiter, Tag für Tag. Ich glaube, niemand hat begriffen, dass mein Problem weniger darin bestand, diese sechs Wochen zu überleben, sondern dass dieser ungeheure Massenmord geschieht: Millionenfach – für jeden geschieht, der Fleisch isst. Besonders jene Fleischesser, die von sich behaupten, Tierfreunde zu sein, werden für mich nun vollends unglaubwürdig. „Hör auf – verdirb mir nicht den Appetit!“ Auch damit bin ich mehr als einmal rigoros abgewürgt worden, gefolgt von der Steigerung: „Du bist ein Terrorist! Jeder normale Mensch lacht dich doch aus!« Wie allein man sich in solchen Augenblicken vorkommt. Ab und zu sehe ich mir den kleinen Rinderfetus an, den ich mitgenommen und in Formalin eingelegt habe. Memento mori. Lass sie lachen, die ’normalen Menschen‘. Die Dinge abstrahieren sich, wenn man von soviel gewaltsamem Tod umgeben ist; das eigene Leben erscheint unendlich bedeutungslos. Man blickt auf die anonymen Reihen zerstückelter Schweine, die mäanderförmig durch die Halle ziehen, und fragt sich: Wäre es anders, wenn hier Menschen hingen? Insbesondere die rückwärtige Anatomie der Schlachttiere, dick und pickelig und rotgefleckt, erinnert verblüffend an das, was an sonnigen Urlaubsstränden fettig unter engen Badehosen hervorquillt. Auch die nicht endenwollenden Schreie, die aus der Tötungshalle herübergellen, wenn die Schweine den Tod spüren, könnten von Frauen oder Kindern stammen. Abstumpfung bleibt nicht aus. Irgendwann denke ich nur noch, aufhören, es soll aufhören, hoffentlich macht er schnell mit den Elektrozangen, damit es endlich aufhört. „Viele geben keinen Ton von sich“, hat einer der Veterinäre einmal gesagt, „andere stehen eben da und schreien völlig grundlos.“ Ich sehe mir auch das an – wie sie dastehen und ‚völlig grundlos‘ schreien. Mehr als die Hälfte des Praktikums ist vorüber, als ich endlich in die Tötungshalle gehe – um sagen zu können: „Ich habe gesehen.“ Hier schließt sich der Weg, der vorn an der Laderampe beginnt. Der kahle Gang, in den alle Pferche münden, verjüngt sich und führt durch eine Tür in einen kleinen Wartepferch für jeweils vier oder fünf Schweine. Sollte ich je den Begriff ‚Angst‘ bildlich darstellen, ich würde die Schweine zeichnen, die sich hier gegen die hinter ihnen geschlossene Tür zusammendrängen, ich würde ihre Augen zeichnen. Augen, die ich niemals mehr vergessen kann. Augen, in die jeder sehen sollte, den es nach Fleisch verlangt. Mit Hilfe eines Gummischlauches werden die Schweine separiert, eines wird nach vorn in einen Stand getrieben, der es von allen Seiten umschließt. Es schreit, versucht nach hinten auszubrechen, und häufig hat der Treiber alle Hände voll zu tun, ehe er endlich mit einem elektrischen Schieber den Stand schließen kann. Ein Knopfdruck, der Boden des Standes wird durch eine Art fahrbaren Schlitten ersetzt, auf dem sich das Schwein rittlings wiederfindet, ein zweiter Schieber vor ihm öffnet sich, und der Schlitten mit dem Tier gleitet hinüber in eine weitere Box. Der danebenstehende Grobschlächter – ich habe ihn insgeheim immer ‚Frankenstein‘ genannt – setzt die Elektroden an; eine Dreipunktbetäubung, wie der Direktor mir einst erklärt hat. Man sieht das Schwein sich in der Box aufbäumen, dann klappt der Schlitten weg, und das zuckende Tier schlägt auf einer blutüberströmten Rutsche auf und zappelt mit den Beinen. Auch hier wartet ein Grobschlächter, zielsicher trifft das Messer unter dem rechten Vorderbein, ein Schwall dunklen Blutes schießt hervor, und der Körper rutscht weiter. Sekunden später hat sich bereits eine Eisenkette um ein Hinterbein geschlossen und das Tier emporgezogen, und der Grobschlächter legt das Messer ab, greift nach einer verschmierten Cola-Flasche, die auf dem zentimeterdick mit geronnenem Blut bedeckten Boden steht, und genehmigt sich einen Schluck. Ich folge den am Haken baumelnden, ausblutenden Kadavern in die „Hölle“. So habe ich den nächsten Raum genannt. Er ist hoch und schwarz, voll von Ruß, Gestank und Feuer. Nach einigen bluttriefenden Kurven erreicht die Schweinereihe eine Art riesigen Ofen. Hier wird entborstet. Von oben fallen die Tiere in einen Auffangtrichter und gleiten in das Innere der Maschine. Man kann hineinsehen. Feuer flammt auf, und mehrere Sekunden lang werden die Körper herumgeschüttelt und scheinen einen grotesken Springtanz aufzuführen. Dann klatschen sie auf der anderen Seite auf einen großen Tisch, werden sofort von zwei Grobschlächtern ergriffen, die noch verbliebene Borsten herunterkratzen, die Augäpfel herausreißen und die Hornschuhe von den Klauen trennen. Einen Moment nur dauert dies alles, hier wird im Akkord gearbeitet. Haken durch die Sehnen der Hinterläufe, schon hängen die toten Tiere wieder und gleiten nun zu einem stählernen Rahmen, der wie ein Flammenwerfer konzipiert ist: Ein bellendes Geräusch, und der Tierkörper wird von einem Dutzend Stichflammen eingehüllt und einige Sekunden lang abgeflammt. Das Fließband setzt sich wieder in Bewegung, führt in die nächste Halle – jene, wo ich schon drei Wochen lang gestanden habe. Die Organe werden entnommen und auf dem oberen Fließband bearbeitet: Zunge durchtasten, Mandeln und Speiseröhre abtrennen und fortwerfen, Lymphknoten anschneiden, Lunge zum Abfall, Luftröhre und Herz eröffnen, Trichinenprobe entnehmen, Gallenblase entfernen und Leber auf Wurmknoten untersuchen. Viele Schweine sind verwurmt, ihre Lebern sind von Wurmknoten durchsetzt und müssen verworfen werden. Alle übrigen Organe wie Magen, Darm und Geschlechtsapparat landen im Abfall. Am unteren Fließband wird der Restkörper gebrauchsfertig gemacht, zerteilt, Gelenke angeschnitten, After, Nieren und Flomen entfernt, Gehirn und Rückenmark abgesaugt et cetera, dann Stempel auf Schulter, Nacken, Lende, Bauch und Keule aufgebracht, gewogen und in die Kühlhalle befördert. Nicht zum Verzehr geeignete Tiere werden ‚vorläufig beschlagnahmt‘. Das Stempeln ist für den Ungeübten Schweißarbeit. Die lauwarmen, glitschigen Kadaver hängen zum Schluss des Bandes hin sehr hoch, und will man nicht von ihnen erschlagen werden, muss man sich beeilen, denn vor der Waage klatschen die Hälften mit viel Wucht aufeinander. Wie oft mein Blick in all diesen Tagen zur Uhr schweift, die im Pausenraum hängt, vermag ich nicht zu sagen. Ganz gewiss geht keine Uhr auf der ganzen Welt langsamer als diese. Jeden Vormittag ist zur Halbzeit eine Pause erlaubt, aufatmend eile ich in den Waschraum, reinige mich notdürftig von Blut und Fleischfetzen; mir ist, als ob diese Besudelung und der Geruch für immer an mir haften. Hinaus, nur hinaus. Ich habe in diesem Haus nie auch nur einen Bissen essen können. Entweder verbringe ich die Pause, so kalt es auch sein mag, draußen, laufe bis an den Stacheldrahtzaun vor und starre hinüber auf die Felder und den Waldrand, beobachte die Krähen. Oder ich gehe zum jenseits der Straße gelegenen Einkaufszentrum, dort ist eine kleine Bäckerei, wo man sich bei einer Tasse Kaffee aufwärmen kann. Zwanzig Minuten später zurück ans Band. Fleisch essen ist ein Verbrechen. Kein Fleischesser kann je wieder mein Freund sein. Niemals. Niemals wieder. Jeden, denke ich, jeden, der Fleisch isst, sollte man hier durchschicken, jeder müsste es sehen, von Anfang bis Ende. Ich stehe hier nicht, weil ich Tierarzt werden will, sondern weil Menschen meinen, Fleisch essen zu müssen. Und nicht nur das: auch, weil sie feig sind, unsagbar feig. Das steril verschweißte Schnitzel im Supermarkt hat keine Augen mehr, die überquellen vor nackter Todesangst, es schreit nicht mehr. Das alles ersparen sie sich, all jene, die sich von geschundenen Leichen nähren: „Also, ich könnte das nicht!“ Dann, eines Tages, kommt ein Bauer und bringt Fleischproben zur Trichinenuntersuchung. Sein kleiner Bub begleitet ihn, zehn oder elf Jahre alt vielleicht. Ich sehe, wie das Kind seine Nase an der Scheibe plattdrückt, und denke: Wenn die Kinder es sähen, all dieses Grauen, all die ermordeten Tiere – gäbe es da nicht noch Hoffnung? Ich kann genau hören, wie der Bub nach seinem Vater ruft. „Papi, schau mal! Geil!! Diese große Säge da!“ Am Abend, im Femesehen, berichtet „XY ungelöst“ von dem Verbrechen an einem jungen Mädchen, das ermordet und zerstückelt wurde, und vom namenlosen Entsetzen und Abscheu der Bevölkerung auf diese Greueltat. „So etwas ähnliches habe ich diese Woche 3.700mal mitangesehen“, werfe ich ein. Nun bin ich nicht mehr nur ein Terrorist, sondern obendrein krank im Kopf. Weil ich Entsetzen und Abscheu nicht nur wegen eines Menschenmordes empfinde, sondern auch wegen des tausendfach mit Füßen getretenen Mordes an Tieren: 3.700 nur in dieser einen Woche, nur in diesem einen Schlachthof. Mensch sein: Heißt das nicht, nein zu sagen und sich zu weigern, Auftraggeber eines Massenmordes zu sein – für ein Stück Fleisch? Sonderbare neue Welt. Vielleicht hatten die winzigen, dem Mutterleib entrissenen Kälbchen, die starben, bevor sie geboren wurden, das beste Los von uns allen. Irgendwann ist der letzte all dieser nicht endenwollenden Tage gekommen. Irgendwann halte ich die Praktikumbestätigung in Händen, einen Papierwisch, teurer bezahlt, als ich je für irgendetwas bezahlt habe. Die Tür schließt sich, eine zaghafte Novembersonne geleitet mich über den kahlen Hof zum Bus. Schreie und Maschinenlärm werden leiser. Als ich die Straße überquere, biegt ein großer Viehtransporter mit Anhänger in die Zufahrt zum Schlachthof ein. Schweine auf zwei Etagen, dichtgedrängt. Ich gehe ohne einen Blick zurück, denn ich habe Zeugnis abgelegt, und jetzt will ich versuchen zu vergessen, um weiterleben zu können. Kämpfen mögen nun andere; mir haben sie in jenem Haus die Kraft dazu genommen, den Willen, die Lebensfreude, und sie gegen Schuld und lähmende Traurigkeit getauscht. Die Hölle ist unter uns, vieltausendfach, Tag für Tag. Eines aber bleibt immer, jedem von uns: NEIN zu sagen. NEIN, NEIN und abermals NEIN! C.M. Haupt Weiterführende Literatur: Rieg/Völlm/Feddersen/Gericke: Gericke/Völlm/Rieg/Keller: Zinko/Jukes/Gericke:
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